Über Ordnung

Wer räumt hier eigentlich mal auf?

von Julia Blum

Es gibt ihn wirklich, den Weltaufräumtag. Und ich muss aus aktuellem Anlass meine ganz persönlichen Gedanken dazu loswerden: Meine Tochter zieht um. Also nicht etwa aus, sie bleibt sogar im selben Zimmer – und doch zieht sie um: vom Jugendzimmer in etwas Neues, das sich erst langsam mit dem Ausräumen, Weißeln, Putzen, Aussortieren und Umstellen herausbildet. Quasi eine neue Weltordnung.

„Ist gefühlt mein sechster Weltaufräumtag“, sagt sie. Denn immer, wenn ein Kapitel – Kindheit, Jugend, Freundschaft, Schule – zu Ende geht, räumt sie auf. Von Grund auf wird alles umgedreht, neu sortiert und manches noch einmal gewürdigt, bevor es gehen darf. Aus dem Zimmer, aus dem Leben, könnte man sagen.

Das verrückteste am Aufräumen ist ja: der Zustand danach ist nicht haltbar.

Als Mutter stelle ich fest: Aufräumen ist relativ. Wie unaufgeräumt war es vorher? Wie aufgeräumt ist es nachher? Es macht einen Unterschied, aus welcher Perspektive man das Ganze betrachtet und welchem Zweck es dient. Relativ ist es auch zur Zeit – zur Zeit, die man im Leben grundsätzlich damit verbringt. Zur Zeit, die es braucht, um den gewünschten Zustand zu erreichen. Und natürlich zu der, die der Zustand anhält, wenn man sagt: Jetzt ist es aber aufgeräumt!

Da frage ich mich plötzlich, ob nicht alles, was wir tun, irgendwie unter der Kategorie „Aufräumen“ laufen könnte – im Guten wie im Schlechten. Ein- und aussortieren, ordnen, erfinden, verbessern, effektiver machen, an den richtigen Platz stellen. Zum Beispiel auch: Du hierhin, ich dorthin. Dann hat alles seine Ordnung. Gegen Ansichten oder gegen den Saustall kämpfen – ist das nicht im Grunde das Gleiche? Auch die Natur wird aufgeräumt, nur nennen wir es dann kultivieren.

Welche Bedeutung haben Aufräumen und der aufgeräumte Zustand für das Leben? Welcher Aufwand ist angemessen, welcher Zweck noch vertretbar? Und: Wie viel Zeit will ich eigentlich damit verbringen, Dinge in Ordnung zu bringen und in Ordnung zu halten? Was wäre, wenn ich einfach von jetzt auf gleich damit aufhören würde? Was müsste ich dann annehmen?

Das Verrückteste am ganzen Aufräumen ist ja: Der Zustand danach ist nicht haltbar. Ernüchternd? Vielleicht. Aber so ist es. Gerade WEIL sich Staub sofort wieder bildet, WEIL die Arbeit nie endet, WEIL eine Ordnung von der nächsten – oder vom Chaos – abgelöst wird, macht Aufräumen für mich nur dann Sinn, wenn es als Teil des Weges verstanden wird.

Das sollte man sich öfter mal vor Augen halten. Vor allem als Mutter.

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Von Richtig und Falsch

Muss sich immer alles richtig anfühlen?

von Melissa Liebthal

Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, ich mache alles falsch. Dabei weiß ich gar nicht, ob ich es überhaupt richtig machen könnte. Ist das normal? Sich so richtig fehl am Platz fühlen, über einen längeren Zeitraum? Und das, obwohl man seinen Platz vermeintlich schon gefunden hat? So ein Gefühl hatte ich das letzte Mal in der Pubertät. Da war auch gar nichts am richtigen Platz. Jetzt werde ich 23 und so einiges hat einen Platz, aber manches… Ist das die Pubertät 2.0, über die niemand spricht? Wann hört die auf? Ich bin nämlich überhaupt nicht zufrieden damit.

Manchmal ist das Leben komisch. Besonders komisch ist es als junge Erwachsene. Man ist schon älter, aber noch jung. Schlauer und doch irgendwie unwissend. Man hat schon viel gelernt und macht trotzdem noch Fehler. Man ist euphorisch und doch irgendwie traurig. Auf dem Weg, nur nicht ganz sicher, wohin. Irgendwie überfordert, aber voller Hoffnung. Man hat mehr Verpflichtungen, aber ist auch ein Stück freier. Interessiert, aber auch von allem abgelenkt. Müde, aber zu wach fürs Bett. Verliebt, aber nicht bereit für Liebe. Mitten im Geschehen und trotzdem manchmal allein. Im Jetzt, aber mit einem Auge in der Zukunft. In Erinnerungen schwelgend, aber gleichzeitig altes vergessen. Das Leben im Griff, aber jedes Wochenende feiern bis zum Absturz. Jemanden nach Rat fragen und selbst einen haben. Irgendwie faul, aber im Grunde fleißig. Irgendwie die Hauptperson des eigenen Lebens und dennoch ein Mitspieler bei den anderen.

Wir sollen nicht jemand sein, der wir nicht sind, während wir versuchen herauszufinden, wer wir sind.

So viele Gegensätze. Wie soll man sich da festlegen? So viel Unklarheit. Wie kann man da durchblicken? So viel Neues. Und das Alte wird auch mehr. Wo in diesem Spektrum findet sich unsere Wirklichkeit? Die Wirklichkeit, die sich richtig anfühlt. Die Wirklichkeit, die echt ist.

Vielleicht müssen wir gar nicht sofort wissen, was das Richtige ist. Vielleicht hilft es uns auf dem Weg herauszufinden, was unser Wie ist. Wenn ich überfordert bin, wie gehe ich damit um? Wenn ich interessiert bin, wie interessiert bin ich? Wenn ich traurig bin, wie bin ich traurig? Wenn ich Party mache, wie lang? Wenn ich verliebt bin, wie sehr? Wenn ich Hoffnung habe, wieso?

Wenn ich das herausgefunden habe, bin ich vielleicht an einem Punkt, an dem ich meine Balance gut halten kann. Dann bin ich nicht faul oder fleißig. Sondern fleißig, aber gemütlich. Oder faul, aber meiner Verantwortung bewusst. Wach, aber müde vom Tag. Schön, aber nicht immer. Verbunden, als Individuum. Nachdenklich über das Leben, dazwischen Momente mit ausgeschaltetem Kopf.

Vielleicht gibt es dann auch Liebe ohne Angst. Freundschaft mit Leichtigkeit. Handeln, ohne zu bereuen. Ehrlichkeit, ohne sich zu offenbaren. Und: Leben, lebendig. Das bedeutet: aus sich rauskommen, sich erkunden, sich erforschen, entdecken und entfalten. Sich trauen. Sich zurückziehen. Sich blamieren. Sich feiern. An sich glauben. Also ja: es fühlt sich gerade alles falsch an. Doch in dieser Ungemütlichkeit kann ich herausfinden, was sich gut anfühlt.

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Mittelschüler*innen stehen ungeordnet zusammen und einige von ihnen melden sich

Fragen über Fragen | ein Special

Philosophieren in der Mittel- und Förderschule

mit Melanie Wellenhöfer und Petra Wölfinger

Bei unserer letzten online-Stunde „Fragen über Fragen“ ging es um das Philosophieren unter herausfordernden Umständen wie Unruhe, zu große Gruppen, Konzentrationsschwierigkeiten oder kein Interesse. Was tun, lautete die Frage, wenn Philosophieren nicht „einfach läuft“?

Du konntest nicht dabei sein? Die kostenlose Fragestunde zum Philosophieren in der Mittel- und Förderschule wiederholen wir im Herbst! Sobald er feststeht, findest Du den Termin auf unserer Veranstaltungsseite.

Die Fragen der Teilnehmenden und ein paar Antworten von unseren Fachleuten findet Ihr hier:

Wie erhalte ich die Konzentration aufrecht?

  • Uhrzeit beachten: Nachmittags ist nicht immer die beste Zeit zum Philosophieren
  • Beziehungsebene berücksichtigen: Wie oft wird philosophiert? Kennt man die Gruppe gut, sieht man sie nur selten?
  • Was brauchen die Kinder/Jugendlichen? – die Frage sollte an die Gruppe gestellt werden
  • Wahrnehmen, nachfragen, auch: „Wie wär’s mit… (z.B. einer Pause) … – würde Euch das helfen?“
  • Bogen zum Philosophieren schlagen: „Was würdet Ihr jetzt lieber tun? Fußballspielen? Warum würde Euch das besser gefallen? Wie fühlt sich das Gefühl an? Kann Nachdenken auch solche Gefühle erzeugen? Wann? Welche Fragen interessieren Euch fast so sehr wie Fußballspielen? Wo erleben wir Leidenschaft/Spaß/Kraft/Bewegung?“
  • Auflockerungsübungen oder Live-Kinetik einschieben
  • Übungen aus der Theaterpädagogik und Improvisation einfließen lassen
  • In Bewegung philosophieren: eine Frage – ein Schritt, eine Antwort – ein Schritt o.Ä.
  • Wahrnehmungsübungen aus der Achtsamkeit, auch in Bewegung
  • Kleine Pause
  • Nüsse, Äpfel, Wasser

Wie kann ich mich mit Kindern auf Begrifflichkeiten einigen?

  • Bilderbuch als Hinführung (Bsp. „Mutig, mutig“ – Was ist Mut?)
  • Wie wichtig ist es, sich auf einen Begriff zu einigen? Oder wann ist es wichtig?
  • Aussagen wie „Da weiß ich nix…“ entgegnen: „Und was wäre, wenn Du es wissen würdest?“ (nimmt Druck raus & zeigt Neugierde und Interesse)

Wie können Sprachbarrieren umgangen werden?

  • Vielheit der Deutungsmöglichkeiten entstehen und stehen lassen
  • Nach Möglichkeit aber Zusammenhänge aufzeigen
  • „Nicht-immer-sprechen-müssen“ zulassen, Stille aushalten
  • Begriffe oder Gefühle zeichnen, statt sprechen
  • Translater bei Jugendlichen einsetzen
  • Am Ende Notiz-Zettel schreiben, auf denen das Wichtigste für einen selbst notiert oder gezeichnet wird (für die eigene Hosentasche)

Wie kann ich Kinder methodisch mit einbeziehen, wenn sie sich sprachlich nicht flüssig ausdrücken können?

  • Nachfragen: „Hab ich Dich richtig verstanden: …?“
  • Paraphrasieren und spiegeln
  • „Stärkere“ mit „Schwächeren“ zusammen in kleineren (Murmel-)Gruppen aufeinandertreffen lassen
  • Stimme hören & klingen lassen
  • Mit Sprache und Sprechen spielen lassen
  • Lautmalereien oder Geräusche erfinden, die signalisieren: Ich habe nicht verstanden, Etwas langsamer bitte, Ich habe eine Frage an Dich, Bitte eine andere Frage etc. …
  • Wörter gemeinsam sprechen, melodisch mit Sprache arbeiten
  • Haltung der philosophischen Moderation bei Jüngeren oder Kindern mit niedrigem Sprachniveau: „Die sind sprachlich noch nicht festgelegt, das ist wunderbar!“ und z.B. Gedankenexperiment anregen wie: „Stellt Euch vor, es gäbe noch keine Wörter, keine Sprache, wie würden wir uns ausdrücken?“ -> Lieder, Standbilder, Sketche, Farben, Masken, Grimassen …

50% sind interessiert, 50% toben – was tun?

  • Was brauchen die Tobenden?
  • Körperlich werden, in den Körper kommen
  • Gemeinsam Regeln erarbeiten
  • Bedürfnis nach „ihren“ philosophischen Fragen erforschen
  • Kleine(re) Gruppen
  • Innere Dynamiken „aufbrechen“ und Grüppchenbildung verhindern, z.B. mithilfe von Spielen oder Auslosungen, die eine zufällige Sitzordnung ergeben

Wie kann ich gut einen Abschluss moderieren? Auch, wenn das Gespräch eigentlich noch nicht beendet ist?

  • Signalisieren: die Zeit läuft langsam ab (Sanduhr)
  • Mitschreiben, was noch offen ist, für nächstes Mal – nichts Wertvolles verlieren/verloren geben
  • Haltung: „Denken hört nie auf“ – alle notieren, was ihnen „noch“ wichtig ist

 

Wir freuen uns über Eure Kommentare und auch über weitere Tipps!

 

ChancenGleich meets Wertebotschafterin

Was ist wichtig für ein gutes Zusammenleben?

In unserem Projekt ChancenGleich bringen wir Menschen, die in Bayern leben, mit zugewanderten oder geflüchteten Menschen ins Gespräch. In unseren kostenlosen Mitmach-Workshops* und öffentlichen WerteDialogen geht es um Verständnis füreinander und um Verständigung über das Miteinander.
Einer dieser Workshops fand im Juni 2025 in München mit Schüler*innen einer Realschule statt. Gemeinsam mit 5. und 6. Klassen haben wir über Zusammenleben, Vielfalt und Fragen wie „Was verbindet uns eigentlich? Welche Werte tragen uns?“ philosophiert.  Die Kinder brachten Erfahrungen aus ihren verschiedenen Heimatkulturen mit und suchten zusammen nach Gemeinsamkeiten.

„Alle Werte die hier liegen, sind ja Demokratie.“

In Kleingruppen von 10 bis 15 Kindern durchliefen die Schüler*innen einen gemeinsamen Prozess: Ausgehend von ihren ganz persönlichen Werten entwickelten sie Schritt für Schritt zentrale Werte für ihre Klassengemeinschaft. Darunter Begriffe wie Respekt, Hilfsbereitschaft oder Demokratie. Beim Philosophieren tauchten Fragen auf wie: Was ist der Unterschied zwischen Respekt und Toleranz? Kann Gerechtigkeit in der Schule überhaupt gelingen – bei Hausaufgaben oder Noten? Und bedeutet Mitbestimmung, dass ich überall mitreden darf?

Eine selbst gebastelte Collage mit Handabdrücken und Werten liegt auf einem Tisch.

„Engagement ist ja auch, dass wir jeden Tag hier in die Schule kommen.“ Schüler*in

Zum Abschluss der Workshopreihe fand ein Schulfamilien-Abend statt, mit Vertreter*innen aus der Schüler*innen-, Eltern- und Lehrerschaft. Die Klassen präsentierten ihre gemeinsam erarbeiteten Werte, und anschließend wurde im großen Kreis weitergedacht: Welche Werte braucht unsere Schulgemeinschaft als Ganzes? Wie wollen wir hier zusammenleben?

„Vielleicht seid ihr ja die neuen Wertebotschafter*innen eurer Schule?!“ Emma

Ein besonderes Highlight des Abends war der Besuch von Emma, einer Schülerin, die im Vorjahr an der bayernweiten Ausbildung zur Wertebotschafterin teilgenommen hatte. Sie berichtete von ihrem Engagement: wie sie an ihrer Schule eigene Workshops konzipiert, Aktionen zur Wertebildung ins Leben ruft und sogar kleine Filme dazu dreht.

Autorinnen des Beitrags: Petra Reuß und Julia Blum

 

*Die Mitmach-Workshops richten sich in erster Linie Menschen aus Drittstaaten, also aus Ländern, die nicht in der EU sind. Workshops gibt es für Kinder, für Jugendliche, junge Erwachsene und für Frauen. Die Workshop-Reihen werden über zwei Jahre veranstaltet. Hier treffen sich Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Zusammen mit Einheimischen denken wir uns Aktionen aus: Kunstaktionen, kleine Kampagnen, Treffs mit Essen und Musik oder soziale Projekte, die für alle offen sind. Aktuelle Infos zum Projekt ChancenGleich findet man z.B. auf unserer Homepage.

**Die Ausbildung zu Wertebotschafter*innen ist eine Initiative vom Kultusministerium. Gemeinsam mit Lehrkräften und dem JFF Institut für Medienpädagogik gestaltet die Akademie hier eine Woche voller abwechslungsreicher Workshops, die Philosophieren, Wertebildung und Projektarbeit verbindet. Infos zu den Wertebotschaftern: Wertebotschafter*innen für Mittelfranken (Blogbeitrag) und Ausbildung Wertebotschafter (ISB)

Der Inhalt des Wertereisekoffers: ein Wuschel, Infokarten, Stempel und Zettel.

Philosophieren als Haltung

Der Wertereisekoffer am Förderzentrum für geistige Entwicklung in Kempten

Am 22. Juli 2025 fand am Förderzentrum Tom-Mutters-Schule in Kempten eine Fortbildung im Rahmen des Projekts ChancenGleich statt. Kolleginnen und Kollegen erhielten unter der Leitung von Maria Mandl (Akademie für Philosophische Bildung und WerteDialog) eine praxisnahe Einführung in das Arbeiten mit dem Wertereisekoffer, einer Materialsammlung zur Wertebildung und philosophischen Gesprächsanregung in Schulen.

Nach einem kurzen Einstieg in die Methode des Philosophierens als offenes, dialogisches Bildungsprinzip ging es direkt ins praktische Erleben. Die Teilnehmenden tauchten gleich zu Beginn in eine philosophische Einheit ein. In einer persönlichen Fragerunde per Losverfahren setzten sie sich zunächst mit biografischen Fragen auseinander, die auf Anhieb nicht einfach zu beantworten sind wie:

„Welches Ereignis hat dich in deinem Leben erwachsen werden lassen?“ oder
„Welcher Fehler soll deinen Liebsten erspart bleiben – und warum?“

Diese Offenheit zeigte unmittelbar, wie bedeutsam ein geschützter Raum und verbindliche Gesprächsregeln für philosophische Gespräche sind. Und wie diese Haltung auch in der pädagogischen Praxis wirksam werden kann.

Toleranz: Duldung oder Akzeptanz?

Im thematischen Schwerpunkt des Workshops widmete sich das Kollegium der Frage:

„Was bedeutet wahre Toleranz?“

Im gemeinsamen Philosophieren reflektierten die Teilnehmenden den Begriff vielschichtig: auf privater, partnerschaftlicher, beruflicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene. Sie brachten persönliche Erfahrungen ein und näherten sich dem Begriff aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei wurde deutlich, wie schwer sich Toleranz von Begriffen wie Akzeptanz, Duldung oder stiller Zustimmung abgrenzen lässt. Und wie sehr das Verständnis von Toleranz von der Beziehung zum Tolerierten abhängt.

Einigkeit herrschte darüber, dass die Auseinandersetzung mit Werten wie Toleranz sensibel macht für das Gegenüber. So bereitet sie auch auf viele Situationen im schulischen Alltag mit Kindern und Jugendlichen vor, in denen genau diese Haltung gefragt ist.

Im Anschluss stellte die Referentin den Wertereisekoffer vor: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkundeten die Materialien und entwickelten gemeinsam erste Ideen, wie sich zentrale Werte in den Förderschulalltag auch im Bereich geistige Entwicklung bearbeiten lassen. Wichtig ist hier immer der Blick auf sprachreduzierte Zugänge, nonverbale Ausdrucksformen und lebensnahe Themen.

Philosophieren stärkt die Gemeinschaft

Der Workshop wurde nicht nur als fachlich bereichernd, sondern auch als stärkender Impuls für die Gemeinschaft in der Gruppe erlebt. In der gemeinsamen Reflexion über Werte, Beziehungen und pädagogisches Handeln wurde deutlich, wie viel Potenzial im Philosophieren auch im Kollegium steckt.

Wir danken der Tom-Mutters-Schule für ihre Offenheit, ihr Engagement und das Vertrauen, neue Wege im Denken gemeinsam zu erproben. Der Wertereisekoffer hat hier einen lebendigen Start gefunden mit vielen Impulsen, die Mut machen, Raum schaffen und Kinder wie Erwachsene einladen, über das nachzudenken, was wirklich zählt.

Autorin des Beitrags: Maria Mandl

Was ist ein Wunsch?

Philosophieren an der Friedel-Eder-Schule

Anfang Juli fand an der Friedel-Eder-Schule in Daglfing eine besondere philosophische Einheit statt. Gemeinsam mit unserer Gesprächsleiterin Maria Mandl machten sich Jugendliche in dem staatlich genehmigten Förderzentrum mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung auf die Suche nach Antworten auf eine scheinbar einfache, aber doch tiefgründige Frage: Was ist ein Wunsch?

Denken mit dem Herzen – und mit dem Kopf

Der Workshop begann mit einer offenen Gesprächsrunde. Schnell wurde klar: Hinter dem Wort „Wunsch“ steckt viel mehr, als man zunächst vermuten würde. Maria Mandl begleitete die Jugendlichen mit viel Feingefühl und gezielten Impulsfragen zum Thema. So wurden im Laufe der Stunde immer neue Aspekte beleuchtet:

  • Wünschst du dir manchmal Dinge – oder eher Erlebnisse?
  • Gibt es gute und schlechte Wünsche?
  • Warum wünschen sich Menschen Unterschiedliches?
  • Und: gibt es einen Unterschied zwischen ‚etwas wünschen‘ und ‚etwas brauchen‘

Die Jugendlichen brachten viele eigene Gedanken und Erfahrungen ein. Und sie teilten auch ganz Persönliches: „Ich wünsche mir, dass ich meine Mama wiedersehe, aber sie ist tot.“ Oder: „Ich wünsche mir, dass ich wieder ein besseres Verhältnis zu meiner Oma und meinem Opa habe.“

Von Hulk, Fußbällen und Herzensangelegenheiten

Natürlich kamen auch „kleine“ und fantasievolle Wünsche zur Sprache – wie der Wunsch, Hulk zu sein oder einen neuen Fußball zu bekommen. Manche bemerkten, dass sie besonders vor dem Geburtstag viele Wünsche haben – und dass ein Wunsch vielleicht nur dann ein echter Wunsch ist, wenn man nicht alles sofort haben kann. Auch der Glaube an die Erfüllbarkeit spielte eine Rolle. So meinte ein Jugendlicher: „Manchmal kann man etwas tun für seinen Wunsch – man muss fest daran glauben.“

Wünsche, die der Wind trägt

Zum Abschluss durften alle Jugendlichen drei persönliche Wünsche formulieren – darunter auch einen echten Herzenswunsch. Diesen schrieben sie auf bunte Stoffbänder, die anschließend an den Wunschbaum auf dem Schulgelände gebunden wurden. Nun flattern die Wünsche dort im Wind – getragen von der Hoffnung, dass das Universum sie hört, versteht und eines Tages erfüllt zurücksendet.

Fortsetzung folgt…

In den nächsten Wochen wird Maria Mandl erneut mit den Jugendlichen philosophieren. Wer weiß – vielleicht hat sich bis dahin ja schon ein Wunsch erfüllt? Sicher ist: Die Gedanken und Gefühle, die in diesem Workshop geteilt wurden, haben uns bewegt – und gezeigt, dass Philosophieren auch und gerade mit jungen Menschen an besonderen Schulen einen Raum schafft, in dem Wertvolles entsteht.

Autorin des Beitrags: Maria Mandl

Moderationskarte auf dem Boden

Von abstrakten Idealen zu konkretem Handeln: Werte im Alltag verankern

Zwischen Gefühl und Verstand

Schon als Kinder haben wir eine ganz klare Intuition, wenn Werte wie Respekt, Gerechtigkeit oder Vertrauen verletzt werden. Das liegt daran, dass wir werteorientiertes Handeln von Geburt an täglich erfahren, erleben und erlernen. Unser Gehirn lernt Werte, wie es Bewegungen lernt: durch Wiederholung. Das Lernen und das Reagieren auf Werte sind also zunächst einmal körperliche Vorgänge und keine Leistung des Verstandes, des Sprachvermögens. Aus diesem Grund fällt es uns auch schwer, die Begriffe, die wir für Werte gefunden haben, direkt auf unser Handeln im Alltag zu beziehen. Der verstandesmäßige Umgang mit Werten funktioniert ganz anders als das intuitive Erleben. Doch gerade das, die Tatsache, dass Werte sowohl unser Gefühl, unsere Intuition, unseren Körper ansprechen als auch unseren Verstand und unser Sprachvermögen herausfordern, und dass sie in unserem Leben auf unterschiedliche Weise wirksam werden können, macht Werte besonders und unterscheidet sie von anderen abstrakten Begriffen.

Nicht alles Wichtige ist auch ein Wert

Deshalb ist es vielleicht wichtig, damit zu beginnen, was Werte nicht sind. Und welche der Begriffe, die in der politischen Diskussion oder in medialen Darstellungen oft leichthin als Werte bezeichnet werden, streng genommen keine Werte sind. Denn nicht alles, was uns wichtig und „wert-voll“ erscheint, ist im engeren Sinne ein Wert, auch wenn es vielleicht sprachlich naheliegt. Vieles davon ist kein Wert, es hat für uns einen Wert. Begriffe, die wir häufig als („hohe“) Werte bezeichnen, weil wir ihre Bedeutsamkeit herausstellen möchten, sind beispielsweise Demokratie, Nachhaltigkeit, Familie, Sicherheit oder Gesundheit. Alles wichtig, wertvoll und bedeutsam – aber eben keine Werte. Um das noch konkreter zu machen: die Begriffe, die wir immer wieder als Werte bezeichnen, fallen eigentlich in andere Kategorien:

  • Eigenschaften und Charakterzüge: Begriffe wie Besonnenheit, Disziplin, Humor oder Sanftmut beschreiben Persönlichkeitsmerkmale.
  • Bedürfnisse: Sicherheit, Gleichberechtigung oder Gesundheit sind (grundlegende) Bedürfnisse des Menschen.
  • Kompetenzen: Kreativität, Zuhören können, Mitgefühl, Phantasie, Resilienz oder Wandlungsfähigkeit sind Kompetenzen.
  • Konzepte oder Systeme („Wertecontainer“): Familie, Gemeinschaft, Demokratie oder Freundschaft sind komplexe Konzepte, die zwar Werte beinhalten, aber nicht selbst einzelne Werte im eigentlichen Sinne sind.

Doch welche Begriffe bleiben dann noch? Und wie erkenne ich Werte?

Was Werte konsensfähig macht

Wenn wir hier von Werten sprechen, meinen wir Begriffe wie Vertrauen, Gerechtigkeit, Verantwortung, Freiheit oder Transparenz. Und, ganz wichtig, wir meinen nur die Begriffe selbst. In der Weise, wie sie unser Gefühl, unsere Erfahrung und unsere Intuition ansprechen. Es handelt sich um Begriffe, die für uns positiv besetzt sind. Begriffe, deren Gegenteil (Misstrauen, Ungerechtigkeit, Verantwortungslosigkeit, Verachtung oder Intransparenz) wir niemals ernsthaft als Wert Betracht ziehen würden.

Die folgenden, grundlegenden Kriterien können dabei helfen, einzelne Begriffe als Werte zu identifizieren:

Werte sind…

  • abstrakte Begriffe.
  • zwischenmenschlich relevant.
  • positiv konnotiert.
  • erlebbar und erfahrbar.
  • nicht eindeutig und abschließend definiert oder definierbar.
  • keine Charakterzüge, Eigenschaften, Kompetenzen oder Bedürfnisse.

Zugegeben: diese Kriterien mögen nicht abschließend sein und auch nicht in jedem einzelnen Fall vollständige Klarheit darüber liefern, ob ein bestimmter begriff ein Wert ist oder nicht. Denn diese Unschärfe und der damit verbundene Diskussions- und Klärungsbedarf zeichnet Werte ja aus. Sie laden ein, ja sie fordern dazu heraus, sich Gedanken zu machen, sich auseinander zu setzen und eine sprachliche Klärung herbei zu führen.

Doch sie machen deutlich, warum es uns so erstaunlich leicht fällt, eine Einigung darüber zu erzielen, dass wir bestimmte Werte wie Respekt, wie Verantwortung, wie Transparenz, wie Freiheit für einen bestimmten Kreis von Menschen in einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Situation übereinstimmend als wichtig empfinden. Jedes einzelne Kriterium hat einen Anteil daran bzw. beschreibt, woran es liegt, dass Werte so wirksam sind.

Vom Wert zur gemeinsamen Vorstellung – Die Kraft des Dialogs

Haben wir uns einmal auf wichtige Begriffe wie „Respekt“, „Vertrauen“ oder „Verantwortung“ als gemeinsame Werte in einer Schule, einem Team, einem Unternehmen geeinigt, sollte doch eigentlich deutlich klarer sein, wie wir uns gegenüber anderen verhalten sollten und wie nicht. Vielen Organisationen begnügen sich mit diesem ersten Schritt, dem Wertekonsens. Die Begriffe lassen sich ja auch gut und wirksam in Eingangsbereichen, Schulungsräumen oder Treppenhäusern installieren. Doch wer mehrere Grundschulen besucht oder einige Leitbilder von Unternehmen überflogen hat, dem fällt schnell eines auf. Es sind immer wieder dieselben Begriffe, die man zu lesen bekommt. Die Werte an sich sind nicht originell – und das macht auch Sinn! Denn es kann als Orientierung für funktionierende Beziehungen und Gemeinschaften nicht unendlich viele Werte geben. Die ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen wiederholen sich und wir Menschen teilen sie kulturübergreifend – auch wenn wir sie vielleicht anders bezeichnen oder ihnen unterschiedliche Bedeutsamkeit beimessen.

Doch spätestens, wenn Konflikte auftreten oder wir Regeln oder andere Rahmenbedingungen schaffen wollen, um diese Werte im Alltag tatsächlich zu leben, schaltet sich der Verstand ein. Er sucht nach einer handfesten Definition für diese Idealbegriffe, die wir alle prinzipiell gut und wichtig finden. Versuchen wir dann, für uns allein oder gar gemeinsam die Bedeutung eines Wertes tiefer zu ergründen, stellen wir schnell fest: Es gibt ganz unterschiedliche Sichtweisen und Definitionen.

Und auch das ist nicht nur plausibel, sondern auch notwendig. Denn eine tragfähige Wertvorstellung muss immer zu den spezifischen Menschen, der Gruppe, der Gemeinschaft und ihren individuellen Herausforderungen passen. Das bedeutet auch, sie sollte nicht „von oben“ oder „von außen“ vorgegeben werden. Nur so kann sie verbindlich werden und ihre Wirkung im Alltag entfalten. Eine mögliche Methode, um zu einer solchen gemeinsam getragenen Wertvorstellung zu gelangen, ist das philosophische Gespräch, das im Dienst einer begrifflichen Wertklärung steht. Hier geht es darum, durch gezielte Fragen und gemeinsames Nachdenken zu einem tieferen, geteilten Verständnis des jeweiligen Wertbegriffs zu gelangen.

Werte bewusst im Alltag verankern

Ist eine gemeinsame Wertvorstellung formuliert, folgt der entscheidende dritte Schritt, der leider zu selten bewusst vollzogen wird: die Übersetzung dieser Vorstellung in etwas Konkretes. Die idealerweise gemeinsam entwickelte Verständigung darüber, was ein bestimmter Wert für uns bedeutet, muss nun in den Alltag überführt werden.

Das kann auf verschiedene Weisen geschehen:

  • Ableitung von Regeln und Prinzipien: Aus der gemeinsamen Wertvorstellung werden konkrete Verhaltensrichtlinien oder Handlungsprinzipien abgeleitet.
  • Etablierung gelebter Praktiken: Es werden Routinen, Rituale oder Vorgehensweisen entwickelt, die den Wert im Alltag sichtbar und erfahrbar machen.
  • Gestaltung von Strukturen der Zusammenarbeit: Organisationsformen, Kommunikationswege oder Entscheidungsprozesse werden so gestaltet, dass sie die vereinbarten Werte widerspiegeln und wertekonformes Verhalten fördern.

Es geht aber nicht nur darum, Neues zu schaffen. Ebenso wichtig ist es, bestehende Regeln, Prinzipien, Praktiken oder Strukturen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls anhand der neu gewonnenen oder geschärften Wertvorstellungen anzupassen. All diese Elemente dienen als konkrete Wegweiser oder Orientierungspunkte für unser tägliches Handeln und können dafür sorgen, dass wir Werte im Alltag wie selbstverständlich leben.

Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen: Ein Weg zur Wertebildung

Gerade der zweite Schritt – die gemeinsame Einigung auf eine Wertvorstellung in einer Gruppe – lässt sich hervorragend durch das Philosophieren gestalten. Die Methode des philosophischen WerteDialogs ist besonders gut geeignet, um ein tieferes, gemeinsames Verständnis von Werten zu entwickeln. Warum? Weil das Philosophieren Kinder und Jugendliche (aber auch Erwachsene) dazu anregt, über abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit, Freundschaft oder Verantwortung selbstständig und kritisch nachzudenken. Sie formulieren eigene Standpunkte, vertreten sie argumentativ, hören anderen (wirklich) zu und entdecken unterschiedliche Perspektiven. Im moderierten philosophischen Gespräch können Kinder und Jugendliche gemeinsam ergründen, was ein bestimmter Wert für sie persönlich und für ihre Gemeinschaft bedeutet. Dieser Denk- und Aushandlungsprozess fördert nicht nur die kognitive Auseinandersetzung, sondern auch die emotionale Verankerung. Und darüber hinaus entsteht die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln im Sinne der gemeinsam erarbeiteten Werte zu übernehmen. So stärkt das Philosophieren die Grundlage für eine funktionierende Wertebildung und die demokratische Kultur in unserer Gesellschaft.

Autor dieses Beitrags: Christophe Rude