Von abstrakten Idealen zu konkretem Handeln: Werte im Alltag verankern
Zwischen Gefühl und Verstand
Schon als Kinder haben wir eine ganz klare Intuition, wenn Werte wie Respekt, Gerechtigkeit oder Vertrauen verletzt werden. Das liegt daran, dass wir werteorientiertes Handeln von Geburt an täglich erfahren, erleben und erlernen. Unser Gehirn lernt Werte, wie es Bewegungen lernt: durch Wiederholung. Das Lernen und das Reagieren auf Werte sind also zunächst einmal körperliche Vorgänge und keine Leistung des Verstandes, des Sprachvermögens. Aus diesem Grund fällt es uns auch schwer, die Begriffe, die wir für Werte gefunden haben, direkt auf unser Handeln im Alltag zu beziehen. Der verstandesmäßige Umgang mit Werten funktioniert ganz anders als das intuitive Erleben. Doch gerade das, die Tatsache, dass Werte sowohl unser Gefühl, unsere Intuition, unseren Körper ansprechen als auch unseren Verstand und unser Sprachvermögen herausfordern, und dass sie in unserem Leben auf unterschiedliche Weise wirksam werden können, macht Werte besonders und unterscheidet sie von anderen abstrakten Begriffen.
Nicht alles Wichtige ist auch ein Wert
Deshalb ist es vielleicht wichtig, damit zu beginnen, was Werte nicht sind. Und welche der Begriffe, die in der politischen Diskussion oder in medialen Darstellungen oft leichthin als Werte bezeichnet werden, streng genommen keine Werte sind. Denn nicht alles, was uns wichtig und „wert-voll“ erscheint, ist im engeren Sinne ein Wert, auch wenn es vielleicht sprachlich naheliegt. Vieles davon ist kein Wert, es hat für uns einen Wert. Begriffe, die wir häufig als („hohe“) Werte bezeichnen, weil wir ihre Bedeutsamkeit herausstellen möchten, sind beispielsweise Demokratie, Nachhaltigkeit, Familie, Sicherheit oder Gesundheit. Alles wichtig, wertvoll und bedeutsam – aber eben keine Werte. Um das noch konkreter zu machen: die Begriffe, die wir immer wieder als Werte bezeichnen, fallen eigentlich in andere Kategorien:
- Eigenschaften und Charakterzüge: Begriffe wie Kreativität, Disziplin, Humor oder Sanftmut beschreiben Persönlichkeitsmerkmale.
- Bedürfnisse: Sicherheit oder Gesundheit sind grundlegende Bedürfnisse des Menschen.
- Kompetenzen: Die Fähigkeit zur Innovation oder Resilienz sind Kompetenzen.
- Konzepte oder Systeme („Wertecontainer“): Familie, Gemeinschaft, Demokratie oder Nachhaltigkeit sind komplexe Konzepte, die zwar Werte beinhalten, aber nicht selbst einzelne Werte im eigentlichen Sinne sind.
Doch welche Begriffe bleiben dann noch? Und wie erkenne ich Werte?
Was Werte konsensfähig macht
Wenn wir hier von Werten sprechen, meinen wir Begriffe wie Vertrauen, Gerechtigkeit, Verantwortung, Wertschätzung oder Transparenz. Und, ganz wichtig, wir meinen nur die Begriffe selbst. In der Weise, wie sie unser Gefühl, unsere Erfahrung und unsere Intuition ansprechen. Es handelt sich um Begriffe, die für uns positiv besetzt sind. Begriffe, deren Gegenteil (Misstrauen, Ungerechtigkeit, Verantwortungslosigkeit, Verachtung oder Intransparenz) wir niemals ernsthaft als Wert Betracht ziehen würden.
Die folgenden, grundlegenden Kriterien können dabei helfen, einzelne Begriffe als Werte zu identifizieren: Werte sind…
- abstrakte Begriffe.
- zwischenmenschlich relevant.
- positiv konnotiert.
- erlebbar und erfahrbar.
- nicht eindeutig und abschließend definiert oder definierbar.
- keine Charakterzüge, Eigenschaften, Kompetenzen oder Bedürfnisse.
Zugegeben: diese Kriterien mögen nicht abschließend sein und auch nicht in jedem einzelnen Fall vollständige Klarheit darüber liefern, ob ein bestimmter begriff ein Wert ist oder nicht. Denn diese Unschärfe und der damit verbundene Diskussions- und Klärungsbedarf zeichnet Werte ja aus. Sie laden ein, ja sie fordern dazu heraus, sich Gedanken zu machen, sich auseinander zu setzen und eine sprachliche Klärung herbei zu führen.
Doch sie machen deutlich, warum es uns so erstaunlich leicht fällt, eine Einigung darüber zu erzielen, dass wir bestimmte Werte wie Respekt, wie Verantwortung, wie Transparenz, wie Freiheit für einen bestimmten Kreis von Menschen in einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Situation übereinstimmend als wichtig empfinden. Jedes einzelne Kriterium hat einen Anteil daran bzw. beschreibt, woran es liegt, dass Werte so wirksam sind.
Vom Wert zur gemeinsamen Vorstellung – Die Kraft des Dialogs
Haben wir uns einmal auf wichtige Begriffe wie „Respekt“, „Vertrauen“ oder „Verantwortung“ als gemeinsame Werte in einer Schule, einem Team, einem Unternehmen geeinigt, sollte doch eigentlich deutlich klarer sein, wie wir uns gegenüber anderen verhalten sollten und wie nicht. Vielen Organisationen begnügen sich mit diesem ersten Schritt, dem Wertekonsens. Die Begriffe lassen sich ja auch gut und wirksam in Eingangsbereichen, Schulungsräumen oder Treppenhäusern installieren. Doch wer mehrere Grundschulen besucht oder einige Leitbilder von Unternehmen überflogen hat, dem fällt schnell eines auf. Es sind immer wieder dieselben Begriffe, die man zu lesen bekommt. Die Werte an sich sind nicht originell – und das macht auch Sinn! Denn es kann als Orientierung für funktionierende Beziehungen und Gemeinschaften nicht unendlich viele Werte geben. Die ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen wiederholen sich und wir Menschen teilen sie kulturübergreifend – auch wenn wir sie vielleicht anders bezeichnen oder ihnen unterschiedliche Bedeutsamkeit beimessen.
Doch spätestens, wenn Konflikte auftreten oder wir Regeln oder andere Rahmenbedingungen schaffen wollen, um diese Werte im Alltag tatsächlich zu leben, schaltet sich der Verstand ein. Er sucht nach einer handfesten Definition für diese Idealbegriffe, die wir alle prinzipiell gut und wichtig finden. Versuchen wir dann, für uns allein oder gar gemeinsam die Bedeutung eines Wertes tiefer zu ergründen, stellen wir schnell fest: Es gibt ganz unterschiedliche Sichtweisen und Definitionen.
Und auch das ist nicht nur plausibel, sondern auch notwendig. Denn eine tragfähige Wertvorstellung muss immer zu den spezifischen Menschen, der Gruppe, der Gemeinschaft und ihren individuellen Herausforderungen passen. Das bedeutet auch, sie sollte nicht „von oben“ oder „von außen“ vorgegeben werden. Nur so kann sie verbindlich werden und ihre Wirkung im Alltag entfalten. Eine mögliche Methode, um zu einer solchen gemeinsam getragenen Wertvorstellung zu gelangen, ist das philosophische Gespräch, das im Dienst einer begrifflichen Wertklärung steht. Hier geht es darum, durch gezielte Fragen und gemeinsames Nachdenken zu einem tieferen, geteilten Verständnis des jeweiligen Wertbegriffs zu gelangen.
Werte bewusst im Alltag verankern
Ist eine gemeinsame Wertvorstellung formuliert, folgt der entscheidende dritte Schritt, der leider zu selten bewusst vollzogen wird: die Übersetzung dieser Vorstellung in etwas Konkretes. Die idealerweise gemeinsam entwickelte Verständigung darüber, was ein bestimmter Wert für uns bedeutet, muss nun in den Alltag überführt werden.
Das kann auf verschiedene Weisen geschehen:
- Ableitung von Regeln und Prinzipien: Aus der gemeinsamen Wertvorstellung werden konkrete Verhaltensrichtlinien oder Handlungsprinzipien abgeleitet.
- Etablierung gelebter Praktiken: Es werden Routinen, Rituale oder Vorgehensweisen entwickelt, die den Wert im Alltag sichtbar und erfahrbar machen.
- Gestaltung von Strukturen der Zusammenarbeit: Organisationsformen, Kommunikationswege oder Entscheidungsprozesse werden so gestaltet, dass sie die vereinbarten Werte widerspiegeln und wertekonformes Verhalten fördern.
Es geht aber nicht nur darum, Neues zu schaffen. Ebenso wichtig ist es, bestehende Regeln, Prinzipien, Praktiken oder Strukturen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls anhand der neu gewonnenen oder geschärften Wertvorstellungen anzupassen. All diese Elemente dienen als konkrete Wegweiser oder Orientierungspunkte für unser tägliches Handeln und können dafür sorgen, dass wir Werte im Alltag wie selbstverständlich leben.
Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen: Ein Weg zur Wertebildung
Gerade der zweite Schritt – die gemeinsame Einigung auf eine Wertvorstellung in einer Gruppe – lässt sich hervorragend durch das Philosophieren gestalten. Die Methode des philosophischen WerteDialogs ist besonders gut geeignet, um ein tieferes, gemeinsames Verständnis von Werten zu entwickeln. Warum? Weil das Philosophieren Kinder und Jugendliche (aber auch Erwachsene) dazu anregt, über abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit, Freundschaft oder Verantwortung selbstständig und kritisch nachzudenken. Sie formulieren eigene Standpunkte, vertreten sie argumentativ, hören anderen (wirklich) zu und entdecken unterschiedliche Perspektiven. Im moderierten philosophischen Gespräch können Kinder und Jugendliche gemeinsam ergründen, was ein bestimmter Wert für sie persönlich und für ihre Gemeinschaft bedeutet. Dieser Denk- und Aushandlungsprozess fördert nicht nur die kognitive Auseinandersetzung, sondern auch die emotionale Verankerung. Und darüber hinaus entsteht die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln im Sinne der gemeinsam erarbeiteten Werte zu übernehmen. So stärkt das Philosophieren die Grundlage für eine funktionierende Wertebildung und die demokratische Kultur in unserer Gesellschaft.
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