Akrostichon

W ahrnehmung

E hrlichkeit

R atschlag holen

T aten

E hrenmord

Elvira Friebe

Das Projekt Werte.Dialog.Integration findet nun nach fast drei Jahren seinen Abschluss. Vielfalt, Heimat, Kultur, Gemeinschaft, Familie und viele andere Themen, an denen sich kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede erfahren, verstehen, bewusst machen und überwinden lassen, standen im Mittelpunkt dieses Projektes. Im Zuge dessen absolvierten zahlreiche TeilnehmerInnen die Zusatzausbildung „Philosophieren über Werte im interkulturellen Dialog“  – darunter auch Elvira Friebe, Projektmitarbeitern beim IN VIA Landesverband Bayern.

 Wie bist du auf die Zusatzausbildung „Philosophieren über Werte im interkulturellen Dialog“  aufmerksam geworden?

Ich habe auf Empfehlung der Geschäftsleitung von IN VIA Bayern e.V. an der W-Reihe teilgenommen. Mein erster Gedanke: Was soll das sein? Philosophieren find ich gut, aber wie passt das in den interkulturellen Kontext ? Ich bin aber niemand, der kritisch an Sachen herangeht und bin daher offen und neugierig in die Fortbildung. Ich wollte es erstmal auf mich wirken lassen. Ich hab schon nach dem ersten Workshop erkannt, dass es ein wertvolles Mittel ist, sowohl für die Kinder, mit denen ich damals gearbeitet habe aber auch jetzt bei den Frauen, die kürzlich erst in Deutschland angekommen sind. Ob Kinder oder Erwachsene – es gibt einfach viele offene Fragen und  besonders stark zu spüren ist der Wunsch nach Orientierung. Das Philosophieren schafft einen geschützten Raum, in dem man sich diesen Fragen annähern kann.

Inwiefern konntest du das Philosophieren einsetzen?

Jetzt im Zuge des Projektes FIDA** (Frühe Integration Drittstaats-Angehöriger Frauen und Förderung ihrer Chancengleichheit) habe ich tatsächlich gemerkt, dass ich das Erlernte in den Orientierungs-Workshops mit den Frauen wertvoll verwenden konnte. Mein Auftrag besteht darin, Frauen die Möglichkeit zu bieten, mit anderen in Kontakt zu treten und Fuß zu fassen.

Gülcan*, eine unserer Multiplikatorinnen, hatte mit ihrer Gruppe große Startschwierigkeiten. Sie wurde als Workshopleiterin nicht richtig aufgenommen. Die Stimmung war angespannt und ich hab mich ganz spontan entschlossen, eine philosophische Einheit durchzuführen: Gülcan  saß mit den Frauen im Kreis und war nicht als Leitung, sondern als Teilnehmende im Gespräch integriert. Die Haltung ihr gegenüber schlug sofort um, sie wurde, wenn man so sagen möchte, aufgenommen und war auf einer Augenhöhe mit den anderen. Diese Haltung wurde schließlich auch in den Workshop getragen, alle waren Gülcan gegenüber aufmerksamer und es wurde mehr kommuniziert. Das Philosophieren, das intensive Nachdenken über eine Frage und das Teilen von Erfahrungen, hat eine Brücke geschaffen. Auch Gülcan war gelassener und sicherer in ihrer Position als Workshopleiterin – man hat sich gegenseitig vertraut.

Über welches Thema hattet ihr philosophiert?

Das weiß ich noch ganz genau: Wir philosophierten über die Frage „Was ist Integration“? Eine Frage, die, wie wir von den Feedbackbögen ablesen konnten, ein ungeklärtes Feld für die Frauen darstellte. Von allen Seiten bekommen die Neuankömmlinge zu hören, sie sollen sich integrieren. Aber was heißt das nun? Wie muss man sich verhalten? Was muss man tun, um anzukommen? Wir haben zwar im Gespräch nicht die EINE Antwort gefunden (sondern zahlreiche), aber darum ging es nicht – das Reden und gemeinsame Nachdenken hat sichtlich Druck rausgenommen.

Im Rahmen der Fortbildung habe ich einige Denkwerkzeuge erlernt, z.B. den Perspektivwechsel, den ich in der Einheit angewendet habe. „Stellt euch vor, ich müsste aus Deutschland in die Türkei fliehen. Wie würdet ihr mich aufnehmen?“ Mit  der anschließenden Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Das Gespräch bekam eine ganz andere Dynamik und das Philosophieren ist schließlich ausgeartet in ein lautstarkes Diskutieren, wobei auch unsere Gesprächsregeln ignoriert wurden. Das Gespräch auf „Augenhöhe“ und gegenseitigem Respekt war nicht mehr vorhanden. Da musst ich dann auch eingreifen und habe nochmal auf den Gesprächsball und unsere Regeln verwiesen. Da hab ich erst begriffen, wie viel Großes dieser kleine Ball bewirken kann und was das Philosophieren vom Diskutieren unterscheidet.

Konntest du das Philosophieren in deinen Arbeitsalltag integrieren?

Ich habe keine festen Zeiten oder Termine, an denen ich philosophiere. Ich möchte das spontan handhaben, aber ich denke, dass ich das in Zukunft häufiger einsetzen möchte, vor allem als Einstieg in unsere Workshops. Ich merke, dass die Frauen, häufig auch in Begleitung ihrer Kinder, total aufgewühlt sind, wenn sie ankommen. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass viele überfordert sind und sich nur noch berieseln lassen. Ich habe aber den Anspruch an die Frauen, dass sie selbst die Sachen anpacken und dabei den Mut nicht verlieren , aber das setzt nun mal voraus, dass man sich zuerst Gedanken darüber macht. Wenn man keine eigene Ideen hat, wie soll man dann selbstbestimmt handeln und flexibel sein? Wie gestalte ich mein Leben? Wie will ich ankommen? Wie baue ich die Kulturpuzzle zusammen, damit es zu meinem Puzzle wird? Diese Fragen muss man klären, um dann danach handeln zu können.

Welche Effekte konntest du wahrnehmen?

Das Philosophieren hilft, wie im Fall von Gülcan, beim Aufbau von Vertrauen. Das ist besonders hilfreich, vor allem bei FIDA.

Außerdem nutze ich das Philosophieren zur Sprachförderung. Die meisten Frauen, die aus den Drittstaaten kommen,  haben ein großes Schamgefühl und trauen sich nicht deutsch zu sprechen.

Da es uns wichtig ist, die sprachliche Entwicklung der Frauen zu fördern, werden unsere Multiplikatoren dazu angehalten, die Kurse in Deutsch zu halten, was sich oftmals als schwierig erweist. Das Thema „ Sprache“ ist übrigens auch das Thema der heutigen philosophischen Einheit.  Ich hab mich inspirieren lassen von einem Workshop, den ich kürzlich besucht habe und dachte mir: „Darüber werden wir philosophieren!“. Wieso nicht die Sprache zum Thema machen, um Sprachbarrieren zu überwinden?  Der Anspruch beim Philosophieren ist zwar hoch, aber dafür ist der Lerneffekt größer. Die Frauen helfen sich auch oft untereinander, wenn der einen ein Wort nicht einfällt, kann die andere helfen. Als Einstieg werde ich das „Dialog-Karussell“ verwenden und über persönliche Erfahrungen mit dem Thema „Sprache“ ins philosophische Gespräch darüber einsteigen.

Hat dir die Fortbildung auch persönlich etwas gebracht?

Ich mag es nicht im Mittelpunkt bzw.  in einem Workshop als Leiterin „vor“ der Gruppe zu stehen. Aber im philosophischen Gespräch ist das anders: Beim Philosophieren fällt es mir einfacher mit der Gruppe zu agieren, da kann ich es mir „erlauben“ das Gespräch zu leiten, da ich keine Lösungen liefere, sondern gemeinsam mit der Gruppe auf die Suche nach Antworten gehe.  Wenn ich jetzt drüber nachdenke, ist es wohl das „Wir“- Gefühl und die offene und wertfreie Haltung, die mich als Workshop-Leitung geprägt hat.

Ich habe mich von Modul zu Modul weiterentwickelt und viel gelernt, von der bewusst gesteuerten Gesprächsführung bis hin zur Themenentwicklung innerhalb einer bereits vertrauten und geübten Gruppe.

*Der Name wurde geändert.
** Das Projekt wird finanziert durch EU-Mittel; ein Kooperationsprojekt mit der regionalen Personalentwicklungsgesellschaft mbH Bielefeld

Projekt Werte.Dialog.Integration. Die Fortbildungsreihe findet als Teil des bayernweiten Projekts Werte.Dialog.Integration. statt. Seit 2016 entwickelt die Akademie für Philosophische Bildung darin spezielle Formate für die Arbeit im interkulturellen Bereich und zur Unterstützung integrativer Prozesse. Das Projekt wird 2019 gefördert vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und dem Wertebündnis Bayern.

Es ist 2030...

… du wachst auf und gehst hinaus auf die Straße – den Anblick, der sich dir darbietet, würdest du als funktionierende Gemeinschaft beschreiben. Was siehst du?

Interessant, du hast „funktionierend“ gesagt. Das erste Bild, das sich mir aufgedrängt hatte, als du die Frage formuliertest, war Sorge um 2030. Ich habe angesichts der Entwicklungen Angst, der Druck ist sehr hoch und jederzeit spürbar. Aber eine „funktionierende“ Gesellschaft – dafür müssen wir aufeinander zugehen und uns alle an die Hand nehmen. Mir drängt sich das Bild einer Kette auf, mit vielen einzelnen individuellen Gliedern.

Elvira Friebe